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Du kannst Menschen bloß da erreichen, wo sie sind, nicht da, wo du sie gerne hättest.
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Warum arbeite ich, wo ich arbeite?

13.02.2021 6 Min. lesen

2010 arbeitete ich in einem Unternehmen, welches einige Veränderungen durchlief. Gleichzeitig erlebte ich dabei einen deutlich spürbaren Abgang von Kolleg:innen. Damals teilte ein Kollege diesen Artikel von 2009. Der Artikel beschreibt den Zusammenhang zwischen kleinen, augenscheinlich lapidaren Veränderungen, wie dem Streichen von freien Erfrischungsgetränken, und einer erhöhten Bereitschaft den Arbeitgeber zu wechseln.

TL;DR: eine Veränderung des Arbeitsumfeldes stößt Nachdenken und Reflexion an. Dadurch werden die Veränderungen seit dem eigenen Beitritt in der Organisation deutlicher. Dies kann dann plötzlich zu folgenreichen Erkenntnissen führen.

Veränderungen in der Organisation können also zu Veränderungen bei den Kolleg:innen führen – soweit logisch. Je größer die Veränderung, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich neu orientieren – auch das ist nicht wirklich überraschend. Warum sind Kolleg:innen in unterschiedlichen Positionen im Unternehmen immer wieder trotzdem überrascht, wenn so etwas geschieht? Wieso sehen Führungskräfte so etwas nicht kommen? Weshalb handelt die Organisation dann trotzdem so?

Motivation und Identifikation – Warum ich dort arbeite, wo ich arbeite …

Natürlich ist die Beziehung zwischen einem Unternehmen und einem Menschen sehr vielschichtig. Kollegen, Freunde, Geld, Verantwortung, Art der Tätigkeit, Art des Unternehmens oder Vorgehensmodell im Unternehmen sind einige der möglichen relevanten Dimensionen, aufgrund derer sich Menschen dafür entscheiden, bei einem Unternehmen einer Beschäftigung nachzugehen. Zusätzlich dazu spielen die eigenen Prioritäten eine Rolle. Ist einem Menschen die eigentliche Tätigkeit, vielleicht sogar der Umgang mit Mitarbeiter:innen im Unternehmen egal, Hauptsache das eigene und direkte Umfeld passt? Muss ein Unternehmen alle eignen Prinzipien und Werte komplett erfüllen, ansonsten ist eine Tätigkeit unvorstellbar? Sollte die Arbeit möglichst einfach und leicht sein? Sollte das Unternehmen immer nach Exzellenz streben und die Mitarbeiter:innen ein Umfeld der Herausforderung bieten? Diese Beispiele zeigen, Motivation und Identifikation sind sehr individuell. Nachfolgend möchte ich besonders aus meiner eigenen Erfahrung auf mögliche Zusammenhänge von Veränderungen im Unternehmen und der Wechselbereitschaft von Kolleg:innen eingehen.

Häufig wird die Komplexität menschlichen Verhaltens unterschätzt. Im Arbeitsumfeld wird schnell darauf geachtet, dass Impulse „rein sachlich“ betrachtet werden sollten und somit Emotionen als „zu kompliziert“ bewertet. Um dies weiter zu durchdringen, stelle ich die folgende Hypothese auf: Menschen beginnen eine Tätigkeit bei einem Unternehmen, weil ihnen das Unternehmen etwas für sie Einzigartiges bietet. Folglich wäre damit, eine Veränderung, die diese Einzigartigkeit stört, ein enormer Motivationskiller.

Die Individualität von Menschen macht es nicht einfach zu erkennen, was genau sie an einem Unternehmen begeistert. Daher sollte ein Unternehmen hier nicht zu Verallgemeinerungen („Alle Mitarbeiter:innen arbeiten hier, weil …“) neigen oder diesen Aspekt gar ausblenden. Eigentlich müssten die Mitarbeiter:innen doch „nur“ offen darüber reden, beispielsweise mit den jeweiligen Führungskräften oder Vorständen. In der Realität ist die Sache deutlich komplexer. Aus meiner Erfahrung sind Aspekte wie Vertrauen, Offenheit und ein psychologisch sicheres Umfeld notwendig. Erst wenn diese Aspekte berücksichtigt werden, beginnen viele Menschen über solche Themen zu reden und eine Organisation kann darauf eingehen. Ein solches Umfeld im eigenen Team zu etablieren ist ggf. noch relativ einfach zu erreichen, in der gesamten Organisation geht dies nur, indem über möglichst alle Ebenen viele Menschen an einem Strang ziehen. Aber warum kann es so schwierig für uns Menschen sein, über ein solches Detail zu sprechen?

Beispiele „Was finde ich an meinem Arbeitgeber einzigartig?“

Für Menschen stellt es häufig eine Herausforderung dar, über privatere Details auf einer sinnbildlich größeren Bühne zu reden. Die damit zusammenhängende Selbstoffenbarung führt dazu, dass wir uns dabei möglicherweise nicht wohlfühlen. Nachfolgend einige überspitzte Beispiele:

Aspekt mögliche Selbstoffenbarungsbotschaft mögliches Bedenken
das Unternehmen tut etwas* für die Gesellschaft Ich stehe hinter dem, was das Unternehmen tut, weil ich es gut finde Werden sich Andere von mir abwenden, die mein Unternehmen schlecht finden?
das Unternehmen hat ein einzigartiges* Produkt Ich finde das Produkt toll Welche Diskussionen muss ich aushalten, mit Leuten, die ein anderes Produkt besser finden?
das Unternehmen gibt mir als Mensch Sicherheit* Ich kann mir meinen Lebensstandard leisten Wie gehe ich mit dem Neid der Anderen um? Was, wenn sie mich dafür verurteilen?
das Unternehmen bietet mir eine interessante* Tätigkeit Ich kann etwas tun, was ich gut finde Wie erkläre ich mich gegenüber Anderen, die diese Tätigkeit nutzlos finden?
das Unternehmen bietet mir die Möglichkeit etwas Neues* zu lernen* Ich weiß Dinge noch nicht, kann diese aber jetzt lernen Was mache ich, wenn ich etwas Grundlegendes oder Simples nicht verstehe? Wie gehe ich mit der gefühlten Bloßstellung um?
meine Werte und Prinzipien passen zu denen des Unternehmens Ich habe das Gefühl, richtig zum Unternehmen zu passen Was mache ich, wenn ich entdecke, dass meine Werte doch nicht passen? Was mache ich, wenn ich auf Kolleg:innen treffe, die diese Werte nicht teilen? Muss ich dann das Unternehmen verlassen?

Die „*-Worte“ sind für jeden Menschen wahrscheinlich situativ individuell belegt. Ohne eine abgestimmte Definition hat insbesondere der Aspekt Sicherheit für verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Bedeutungen:

  • regelmäßige Lohnzahlung
  • Arbeitsplatz für die nächsten 5 Jahre
  • gleiche Tätigkeit für die nächsten 12 Monate
  • garantieren meines Lebensstandards
  • Homeoffice in einer Pandemie

Ein kleines Experiment

Ich lade hier gern zu einem kleinen Gedankenexperiment ein. Stellt euch vor, ihr arbeitet in einer Organisation, die in einem Kontext wirksam ist, den ihr persönlich gut findet. Ihr seid auf einem Event umgeben von Menschen, die ebenfalls in diesem Kontext arbeiten. Anschließend stellt euch vor, ihr arbeitet in einem dazu konträren, möglicherweise sogar komplett widersprechendem Kontext, geht aber auf das gleiche Event. Wahrscheinlich fühlen sich beide Vorstellungen unterschiedlich an. Der Kontext setzt also die Aspekte in das entscheidende Licht. Einige Kontextbeispiele:

  • Betriebssysteme
  • Elektroautos
  • Programmiersprachen
  • polarisierende Verlagshäuser
  • Politik
  • Banken

Die Möglichkeit, mit diesen Details anzuecken, ist also gegeben. Inwiefern ein Mensch also solche Dinge teilt, hängt enorm vom Umfeld sowie vom eigenen Charakter/Präferenzen ab.

Was tun?

Entscheidend ist, dass eine Veränderung auf der Arbeit – auch augenscheinlich klein – einen großen Einfluss auf das Leben, die Motivation und besonders die Identifikation von Menschen haben kann. Strukturiert etwa eine Organisation um und ist sich etwa der Wirksamkeit der eigenen Mitarbeiter:innen nicht bewusst (Beitrag zum Unternehmenserfolg, Engagement über die eigentliche Rolle hinaus), kann dies für Einzelne enorm demotivierend sein. Zusätzlich spielen Art der Kommunikation, aktueller Kontext der Menschen, aktuelles Umfeld und Tagesgeschehen eine Rolle. Das macht Veränderungen so komplex.

Zum einen hat die Kultur des Unternehmens einen enormen Einfluss. Kultur umfasst alles, was im Unternehmen gelebt wird. Das heißt etwa akzeptiertes Verhalten, Umgang miteinander, Informationsfluss, Art der Kommunikation oder Tonfall. Die beteiligten Menschen haben maßgeblich Einfluss darauf, was dieses Miteinander im Unternehmen ausmacht. Daher können etwa Vertrauen, Offenheit, Fehlertoleranz oder psychologische Sicherheit nicht einfach installiert oder angeordnet werden. Sie können nur entstehen, wenn alle Beteiligten sie entlang ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten kontinuierlich umsetzen.

Zum Anderen können Werkzeuge wie Change Frameworks oder Vorgehensmodelle dabei helfen, Wissen und Fähigkeiten aufzubauen oder zu verbessern. Interessiert ein Unternehmen, warum die dort arbeitenden Menschen dort wirklich arbeiten, ist eine Kultur, in der psychologische Sicherheit existiert, enorm wertvoll. Psychologische Sicherheit ist kein Kunstwort aus New Work oder Agile. Es beschreibt ein Umfeld, in dem sich Menschen sicher fühlen, offen ihre Meinung zu äußern und konstruktive Kritik zu üben. Sie beginnt bei Teams und ihren Retrospektiven und geht über Bereiche hinaus bis hoch in die Vorstandsetagen der Unternehmen.

Zusätzlich können Modelle wie Spiral Dynamics dazu verwendet werden, um Impulse und Vorgehen bezüglich Wirksamkeit und Wechselwirkung zu überprüfen. Ein Folgepost über SCRUM in diesem Bezug: Warum SCRUM in Ihrer Organisation nicht funktioniert – Roger Müller.

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